Probleme, wenn man sich früher schwer verletzte.
August 1955 - ein Vormittag.
Mutter ist mit der Haferernte auf unserem Feld im Süßengraben beschäftigt, Großmutter erledigt die restlichen Arbeiten im Haushalt. Ich suche in Vater‘s Werkstatt nach einem passenden Holzstück, um daraus einen Keil für die Rindengewinnung für das spätere Schnitzen von Schiffchen zu fertigen. Unter den bereits weg geworfenen Holzstücken finde ich tatsächlich eines, das sich für einen Holzkeil eignet. Es hat etwa die Größe und die Form einer Zigarettenschachtel. Nun gilt es, daraus einen Keil zu fertigen. Mit Vater’s scharf geschliffener Zimmermannshacke mache ich mich an die Arbeit.
Einige Schläge, und dann ist die Katastrophe da: statt dem Holzstück treffe ich meinen linken Daumen. Ich sehe für Sekundenbruchteile eine weiße, klaffende Wunde, die sich augenblicklich mit Blut füllt, die Spitze meines Daumens hängt sofort nach unten.
Mit der rechten Hand halte ich die Wunde zusammen und laufe in die Kammer um dort nach einem Stück Stoff zum Verbinden zu suchen. Dann wickle ich das Stück um den noch immer stark blutenden Daumen. Eigenartigerweise – wohl unter Schock – bleibe ich bei klarem Bewusstsein.
„Ahn’l“, so die damalige Anrede für die Großmutter „i han‘ ma weh tan!“
Als sie meine blutüberströmten Hände sieht, ahnt sie, was geschehen ist. eilt zum Nachbarn und bittet die Tochter des Nachbarn, die „Hartl-Rosi“, sie möge Mutter vom Feld heim holen – es ist dringend!
Trotzdem vergeht etwa eine halbe Stunde, bis Mutter eintrifft. In der Zwischenzeit ist das Blut äußerlich abgewaschen, aber als Mutter den „Verband“ abnimmt, kommt die verkrustete Wunde zum Vorschein. Sie blutet zwar nicht mehr, aber der Schnitt der Hacke zieht sich schräg fast über die gesamte Länge des Daumens hin und die Daumenspitze hängt nach unten. Eigenartigerweise bleibt diesmal die sonst übliche Schimpforgie aus.
„Mia miass‘n sofort zan Doktor, die Wund‘n muass g‘naht werd‘n“ entscheidet Mutter.
Sie kleidet sich rasch um, packt mich auf den Kindersitz ihres Fahrrades und radelt mit mir in Richtung Rainbach. Aber schon nach wenigen hundert Metern muss sie umkehren: der Kindersitz ist viel zu eng für mich und das Sitzen schmerzt fürchterlich.
Ein Telefon im Ort gibt es nicht - das einzige Telefon in der Umgebung befindet sich im Zollhaus in Deutsch-Hörschlag. Also fährt Mutter zum Zollhaus, um von dort aus den Arzt zu verständigen.
Am frühen Nachmittag kommt aus Rainbach Gemeindearzt Dr. Raffetseder, sieht sich meinen Daumen an, schüttelt den Kopf und sagt: „Die Wund’n is z‘ groß. Da kann i nix moch’n, des könnans nur im Spital nah’n!“
So muss Mutter für mich auch noch nach einer Transportmöglichkeit in das Krankenhaus nach Freistadt suchen. Der „Hansbauer“ ist damals einer der wenigen Leute in Zulissen, die ein Auto besitzen, und so bittet sie ihn, „ob er nicht so gut wäre“, mich ins Spital zu bringen.
Die Fahrt ins Krankenhaus wird für mich zu einem Erlebnis, das mich Daumen und Schmerzen vergessen lässt: zum ersten Mal darf ich neben dem Lenker Platz nehmen – ich stehe mehr, als ich sitze. Ich genieße die lange Strecke von Zulissen bis Freistadt – eine bis dahin mir unbekannte Gegend – wir fahren durch die Böhmergasse, das Böhmertor, die Innenstadt von Freistadt, über den Hauptplatz mit dem Brunnen, durch das Linzertor, …
Erst das Aussteigen am Tor des Krankenhauses holt mich in die Wirklichkeit zurück.
Mutter begleitet mich noch in das Krankenhaus hinein. Mich umgibt sofort ein merkwürdiger Geruch nach Desinfektionsmitteln und Äther. Eine freundliche Schwester – ganz in weiß gekleidet – nimmt mich in Empfang, spricht einige tröstende Worte, verabschiedet rasch meine Mutter, damit keine Gefühle in mir hochkommen, steckt mich in ein langes, weißes Krankenhaushemd, dann geht’s ab in den Operationssaal. Dort legt sie mich auf den Operationstisch, ein Arzt und eine andere Schwester nehmen den Verband ab und besehen meine klaffende Wunde. Der Arzt sagt etwas über „Nicht weh tun“ und „bald schlafen“, die Schwester sieht mich an und nickt freundlich, aber ich verstehe das nicht so richtig.
Sie legt ein weißes Tuch über meine Augen und plötzlich drückt mir jemand eine Maske, getränkt mit entsetzlich riechendem Äther auf Mund und Nase. Momentan verschlägt es mir den Atem, aber ich höre, wie der Arzt sagt, ich solle ruhig weiter atmen. Bald werden meine Augen schwer, der Raum um mich wird immer weiter, die Stimme des Arztes rückt in weite Ferne, ich beginne zu schweben, dann versinke ich in einem tiefen Traum.
Als ich am späten Abend langsam wieder erwache, liege ich in einem großen Zimmer, umgeben von vielen Patienten in ihren Betten. Es ist das Zimmer 57, bekannt durch seine 14 Krankenbetten. Obwohl ich noch recht benommen bin, spüre ich, dass mein linker Arm bis zum Ellbogen eingegipst ist und fühle zudem eine grausliche Übelkeit in mir aufsteigen. Ich kann nur noch stammeln, dass mir schlecht wird, einer der Patienten läutet nach der Nachtschwester und dann muss ich mich schon im Bett übergeben. Ich schäme mich, aber die Schwester wechselt verständnisvoll die Bettwäsche. Sie sagt mir, dass es durchaus normal ist, dass man nach einer Äthernarkose erbrechen muss. Dann sinke ich von Neuem in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen darf ich schüchtern, aber doch neugierig unter den freundlichen Blicken meiner Mitpatienten mein Bett verlassen und mich im Zimmer etwas umsehen. Ein Schauer läuft über meinen Rücken, als ich einen Patienten erblicke, durch dessen Ferse ein Stift gebohrt ist, an dem über ein Seil und eine Rolle ein eisernes Gewicht hängt um das Bein zu strecken.
Allmählich lerne ich auch die äußere Umgebung des Krankenhauses kennen, wobei mir bald ein Birnbaum auffällt: er trägt „Nagubitz-Birnen“, eine Birnensorte, die mir besonders schmeckt. So ist bald die Lade meines Nachtkästchens gefüllt mit gestohlenen und deshalb umso schmackhafteren Birnen.
Nach etwa zwei Wochen wird mir der Gips abgenommen und durch einen Verband ersetzt. Der Arzt bestätigt, dass die Wunde schön verheilt ist. Ich sehe auch zum ersten Mal eine Wundnaht mit den vielen Fäden, Knoten und Stichen. Damit werde ich aus dem Krankenhaus entlassen
Mutter hat inzwischen meinen Heimtransport organisiert: Nachdem die Firma Haunschmid aus Freistadt die „Krämerei“ meiner Großmutter mit Waren beliefert, hat sie gebeten dass mein Entlassungstermin mit einer Warenlieferung zusammenfällt. So sitzen wir beide alsbald neben dem Lenker in einem LKW der Firma Haunschmid, der uns heim nach Zulissen bringt – wieder ist es ein Erlebnis für mich, 12 km – diesmal in einem LKW – mitfahren zu dürfen.
Das Schifferl-Schnitzen habe ich deswegen nicht aufgegeben, wohl aber das Herstellen von Holzkeilen!
(gekürzte Orginalgeschichte)
Verfasser
Hubert Kolberger (1948-2023)
Summerauer Straße 29
4261 Rainbach i. M.
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