Kindheit in Rainbach nach dem Kriegsende.
Zu Kriegsende freuten wir uns, als die Amerikaner an dem Haus Rainbach 77, wo wir wohnten, vorbeizogen. Doch die Freude wich der Angst, als die Russen in einer Panzerkolonne nachfolgten und das Mühlviertel besetzten. Mädchen und junge Frauen mussten sich verstecken, doch auch hier war Frau Patin ein Fels in der Brandung, da sie keine Scheu hatte: „Schauts, dass weiter kommts“ rief sie ihnen entgegen, als einige Soldaten einmal Einlass begehrten. Die russischen Soldaten achteten alte Menschen und waren, wenn sie nüchtern waren, auch nett zu Kindern.
Der Krieg war zu Ende. Eines Tages kam eine zwielichtige Gestalt mit einem betrunkenen bewaffneten russischen Soldaten in unsere Wohnung. Der Mann durchsuchte die Kästen nach Brauchbarem und forderte die Herausgabe der Pistole, die jedoch mein Vater zum Kriegsende gleich abgegeben hatte. Wenn nicht binnen zwei Stunden die Pistole auf dem Tisch liege, werde die ganze Familie erschossen. Dass mein Vater keine Pistole mehr habe, wurde ihm nicht geglaubt. Ich hatte ein bisschen Angst, weil meine Mutter weinte und ich dachte, wie es wohl sei, erschossen zu werden. Es gelang meiner Mutter mit Frau Patin die Wohnung zu verlassen und Hilfe zu holen. Ein russischer Offizier kam und nahm die beiden Eindringlinge mit.
Ein Bombentrichter von einer gegen Kriegsende in nicht weiter Entfernung vom Haus abgeworfenen Bombe, war für uns eine abwechslungsreiche Spielstätte. Ein anderes Spielzeug war ein liegengebliebener Panzer, der vor dem Klostergebäude stand. Er war kaum beschädigt, wahrscheinlich ging der Treibstoff aus.
Uns gegenüber war die Gemischtwarenhandlung Röbl, ein kleines Geschäft.
Daneben war ein - mit Kinderaugen gesehen - großer Teich angelegt, auf dem wir im Winter mit unseren Schraubendampfern (auf festem Schuhwerk geschraubte Kufen) umher kurvten und dabei oft die Eisstockschützen störten.
Es nahte das Weihnachtsfest. Es gab wenig zu essen und auf ein Geschenk zu hoffen war illusorisch. Doch das Christkind hatte mich nicht vergessen. Unter dem Weihnachtsbaum lag ein kleines Päckchen für mich. Ich packte es aus und traute meinen Augen nicht - es war kein Kleidungsstück, es war ein Spielzeug! Mein Vater hatte eine kleine Holzfigur mit einer Laubsäge geschaffen, zwei Stäbe verbanden die Figur und wenn man die Stäbe zusammendrückte, drehte sich der kleine Kasperl. Natürlich begleitete mich das Spielzeug ins Bett, Ich träumte, ich habe so ein Spielzeug bekommen, weinte im Schlaf, weil ich manchmal, wenn ich von etwas Schönem träumte, aufwachte und feststellen musste, dass es nur ein Traum war. Ein unbeschreibliches Glück überwältigte mich, als ich aufwachte und dieser Kasperl neben mir lag. Es war das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe und wahrscheinlich auch bekommen werde.
Wir Kinder spürten wenig von der Armut, weil unsere Eltern für uns verzichteten. Doch langsam ging es aufwärts. Ich sehe noch das Bild vor mir, als mein Vater strahlend mit einem noch warmen, duftenden Brot nach Hause kam und sagte: „Kinder, ab heute dürft ihr Brot essen so viel ihr wollt.“ Der Brotlaib war noch warm. Noch bevor er am Fensterbrett zur Gänze ausgekühlt war, war der Striezel von uns bereits aufgegessen.
Es ging weiter bergauf und wir bekamen an hohen Feiertagen und bald dann jeden Sonntag jeder ein kleines Stück Butter in der Größe eines Käseeckerls. Damit strich ich mir 4 bis 5 Brote. Wenn man die Brote schräg gegen das Licht hielt, sah man ein zartes Schimmern auf dem Brot. Es schmeckte vorzüglich.
Nach dem Krieg wurden im Haus Nr. 77 drei Behelfsklassen der Volksschule eingerichtet. Ich besuchte aber die Volksschulklasse im heutigen Gemeindehaus.
Nun begann für mich der „Ernst des Lebens“, was ich Nesthäckchen und Lehrerkind als selbstverständlich aber nicht übermäßig ernst nahm. Am ersten Schultag bekam ich einen Sitzplatz in einem bummvollen Klassenzimmer in der Nähe der Eingangstür. Lärm an der Eingangstür erregte meine Aufmerksamkeit. Ich sah, wie ein Mädchen anscheinend nichts von einem Schulbesuch hielt, denn vorne zog die Lehrerin an den Händen das Kind in die Klasse, während die Mutter von hinten anschob.
Nun saßen alle 72 Kinder dicht gedrängt in den Bänken und „Fräun“ Kummer, eine sehr liebe, echte Klassenmutter, betreute uns durchs ganze Schuljahr. Es gab noch keine Hilfslehrer, sie musste es allein schaffen und sie schaffte es.
Einmal musste Schulleiter Oberlehrer Pötscher supplieren. Unsere Hausübung hatten wir mit einem Griffel auf unsere kleine Tafel geschrieben. („Erstklassler Tafelkratzer, Zweitklassler Tintenpatzer,...) Wir mussten aufstehen und die Tafel seitlich halten. Er ging durch die Reihen, machte mit Kreide auf jede Tafel einen großen Einser, dann mussten wir alles wieder löschen.
Auch Katechet Auinger blieb mir sehr in Erinnerung. Der Tag des Religionsunterrichts war ein Gewinn für einen meiner Schulkameraden. Er hatte nämlich jeden Tag ein dick bestrichenes Butterbrot mit und verkaufte uns um einige Groschen eine Fingerspitze Butter. Damit rieben wir uns die Ohren ein. Der Herr Katechet hatte die Unart, schlimmen Kindern die Ohrmuschel zu drehen. Bei den bestrichenen Ohrmuscheln glitt er aber ab. Wir haben trotzdem dadurch keine psychischen Schäden davongetragen.
Natürlich war ich auch Ministrant. Als Achtjähriger war mir das Lernen des „Confiteor“ (Schuldbekenntnis) zu anstrengend. Da unser Pfarrer schon schwerhörig war (zumindest glaubte ich es), betete ich die ersten Wörter laut, murmelte Unverständliches und schloss das Gebet wieder laut mit „Amen“. Es ging nicht lange gut. Pfarrer Ennsgraber bemerkte den Schwindel bald, es gab ein Donnerwetter und mir blieb nichts anderes übrig, als ihm eine Woche später das lateinische Gebet gut gelernt aufzusagen.
Lustig fand ich am Palmsonntag die Palmbuschen-Weihe. An langen Stangen befestigte Buschen schleppten Jugendliche in die Kirche. Es dauerte nicht lange, dass sich die Stangenenden zum Nachbarn, senkten. Aber bevor eine größere Unruhe entstand, befahl der Pfarrer, die Stangen vor der Predigt bei der Kanzel abzustellen. Kaum war die - wie immer lange - Predigt mit dem „Amen“ zu Ende, stürzten die Burschen zu ihren Stangen und Pfarrer Ennsgraber, der genügend Weihwasser auf die Kanzel mitgenommen hatte, segnete die Hitzköpfe - ziemlich nass - und kühlte sie dadurch ab.
In der Gemischtwarenhandlung Röbl, einem kleines Geschäft gleich über die Straße, erstanden wir ab und zu ein Stollwerk-Zuckerl und - wenn es hoch herging - ein „Panuli“-Röllchen. Auch wenn wir nur Kleinigkeiten kauften, Frau Röbl war immer sehr nett zu uns.
Beim Fleischkauf begleitete ich gern meine Mutter. Es kam nämlich auch vor, dass der Fleischermeister Haider auf mein Betteln hinauf eine ca. 10 dag schwere Knackwurst nahm, sie auf die Waage schmiss, „20 Deka“ sagte und sie mir schenkte.
Beeindruckt war ich von Herrn Miroschnitschenko, einer unserer westlichen Nachbarn, für mich ein gutmütiger Hüne. Beim Hauseingang wurde man von einem kleinen Holzschild begrüßt, in dem eingebrannt war: „Einer spinnt immer.“ Der ehemalige Russe hatte eine kleine Hühnerfarm. Als ich einmal 20 Eier holen sollte, ging er weg und kam ohne einen Behälter in der Hand zurück. Ich befürchtete schon, an diesem Tag umsonst gekommen zu sein, da holte er aus jeder Hosentasche je 10 Stück Eier. Was konnte damals für mich toller sein als eine Hose mit so riesigen Hosentaschen. Übrigens, der Hüne hieß Stefan und so machten sich einer meiner Brüder und ich jedes Jahr am Stefanitag auf den Weg - es waren ohnehin nur ca. 100 Meter - um zum Namenstag zu gratulieren. Dafür erhielten wir ein Stück Gugelhupf, goldgelb wegen der vielen Eidotter - unsere Kuchen sahen dagegen kränklich bleich aus.
Der Enkel der Familie Klopf - Heli - war einer unserer Spielgefährten. Ein Foto erinnert mich noch heute an eine abenteuerliche Floßfahrt auf der Feldaist mit ihm und Pepi Stöglehner. An einer für uns tiefen Stelle - es war die einzige im Fluss - verlor Pepi (ich glaube es war Pepi und nicht Heli) den Halt, fiel ins Wasser und ging unter. Obwohl er nicht schwimmen konnte, tauchte er Gott sei Dank wieder auf. Wir konnten ihn fassen und auf das Floß ziehen. Unser Abenteuer "Floßfahrt" war - kaum begonnen - wieder zu Ende. Leider verunglückte unser Freund Heli in Vöcklabruck einige Jahre später tödlich, weil er von einem Jeep eines amerikanischen Soldaten angefahren worden war.
Ich blicke auf eine glückliche Kindheit zurück, geborgen in einer Familie, deren Wert man oft erst in Notsituationen als unersetzbar erkennt.
Fotos
Verfasser
Gottfried Haunschmid, Ing.-Ferdinand-Porsche-Str.9, 4400 Steyr
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