Das Christkind mit dem Engelshaar und dem zertretenen Schuh.
„ Endlich ist es so weit! Das Warten hat ein Ende! Die letzte Nacht ist vorüber! Heute Abend kommt das Christkind!“ Das waren unsere ersten Worte, als wir am 24. Dezember in aller Herrgotts Früh unsere Augen aufmachten. Schnell wie der Wind sprangen meine Geschwister und ich aus dem Bett und liefen so schnell es nur ging, barfüßig von unserem Schlafzimmer - der „oberen Stube“ - in die „obere Kammer“. Dabei stiegen wir ganz überraschend auf ein paar Engelshaare. „Steffi“, rief ich wie von Sinnen, „das Christkind war hier, hier in unserer Nähe. Und welch ein Duft durch meine Nase zieht. Hier riecht es nach Tannenreisig, so als würden wir gerade durch einen verschneiten Winterwald gehen!“
„Ja“, sagte meine Schwester ganz verzaubert, „dieser Duft zieht von Raum zu Raum. Das Christkind ist mit dem Tannenbaum gekommen!“ Schier aufgeregt stürmten wir über die steile Stiege hinunter und in die warme Stube hinein. „Papa, Mama, Großmutter, schaut doch, was wir gefunden haben! Engelshaare wie lang und schön sie doch sind.“ Unser Vater nahm die Haare, rieb sie ein wenig zwischen den Fingern und steckte anschließend seine Nase in das gelockte Haar. „Ja“, sagte er dann, „die Haare kommen sicher vom Christkind! Aber das Christkind hat noch weitere Spuren hinterlassen. Schaut doch einmal in das Fenster!“
Zwischen den beiden Fensterflügeln lag ein kleiner glitzernder Engel aus feinster Schokolade. „ Steffi, wenn das Christkind in Wirklichkeit auch so schön ist, wie dieser Engel hier“, sagte ich ganz hingerissen. „Dann ist das Christkindl wirklich außergewöhnlich schön“, antwortete meine Schwester. Plötzlich bekam meine Großmutter wieder ihr spitzbübisches Leuchten in ihren Augen. „Ja“, sagte sie dann, „das Christkind ist wirklich schön, außergewöhnlich schön sogar. Aber wer hätte sich das gedacht, dass das Christkind die Haare schon büschelweise verliert?“
Gleich, nachdem wir in aller Herrgottsfrüh unsere Suppe gegessen hatten, wurde mit Besen und Schaufel, mit Aufreibfetzen, Reibbürste und Reibbrett über die Stube gerichtet. Zuerst wurde die Schnitzbank samt ihren Hobelspänen aus der Stube verbannt. Fast zur selben Zeit schleppten wir Kinder den langen Fleckerlteppich hinaus in den Schnee. Als die Stube samt Teppich im weihnachtlichem Glanz erstrahlte, wurde das kleine eiserne Öferl mit Brennholz bis oben hin angefüllt und dieses dann in Wärme verwandelt. Danach sagte mein Vater: „ Seid ihr endlich so weit, es muss noch geräuchert werden, es ist wichtig um den Segen Gottes zu bitten, sowie Krankheiten und die bösen Geister zu vertreiben!“ Er nahm eine Räucherpfanne, gab glühende Holzstücke und Weihrauch hinein und ging mit uns durch das ganze Haus. Als die Stube eingeräuchert war, folgten wir ihm in die Kammer, dann hinauf in die „obere Kammer“, von dort in die „obere Stube“ und hinaus ins „obere Vorhaus“. Überall wurde der Duft des Weihrauchs verbreitet und dazu ein Gebet gesprochen. Anschließend ging es wieder zurück. Nur die Selchkammer ließ mein Vater aus. „He“, sagte ich mit halblauter Stimme, „in die Selchkammer müssen wir auch noch hinein!“ Mein Vater warf mir einen Blick zu und meinte: „Vergiss nicht zu beten!“ Und dann ging er, ohne sich noch einmal umzudrehen. Es zog der Duft des Weihrauchs und ein Stimmengewirr vor mir her. Ich war nicht in der Lage, mich im Gebet wieder einzufinden. Meine Gedanken kreisten nur rund um den Selchraum. Nun ging es wieder zurück in die Stube und von dort in das Vorhaus. Dort roch es erneut wie im Walde. Der ganze Lehmboden war mit frischem Tannenreisig ausgelegt. Anschließend gingen wir in den Stall. Die Kühe räucherte unser Vater besonders ein, eine ganze Rauchschwade stand im Stall. Neben dem Kuhstall befand sich der Schweinestall. In dem einen Stall lag eine große, dicke Sau. Als sie uns sah, fing sie an zu grunzen und zu schreien, gerade so als hätte sie auch gerne mitgetan. Anschließend gingen wir wieder zurück in die Stube.
Plötzlich schossen unsere Eltern wie ein paar aufgebrachte Hühner durch die Stube, von einem Eck in das andere, bei einer Tür hinaus und bei der anderen wieder herein. „Ihr, Kinder“, so hieß es immer wieder, „bleibt schön brav in der Stube, die Kammer ist für euch gesperrt!“ Diese aufgeregte Stimmung war das reinste Futter für unsere ohnehin schon sehr gesteigerte Nervosität. Darum nahmen meine Zwillingsschwester und ich für ein Weilchen Reißaus und liefen so schnell es ging zu unsere Nachbarn, um dort nachzufragen, ob irgend jemand schon das Christkind gesehen hätte. Nach kurzem Intermezzo ging es wieder nach Hause zurück. Als wir wieder nach Hause kamen, riefen unsere Eltern: „Kinder, kommt, es kann nicht mehr lange dauern, das Christkind ist schon in Eibenstein! Die Großmutter sah es schon durch Eibenstein fliegen!“ „Aber vorher werden wir noch beten“, sagte mein Vater. „Ein oder zwei Gesetzerl vom Rosenkranz, Kinder nehmt den Rosenkranz in die Hand, damit ihr auch wisst, wo ihr seid. Oder nehmt eure Finger, die erfüllen den selben Zweck!“ Zuvor stellte sich unsere Mutter auf einen Schemel, um am Adventkranz, der in der Mitte der Stubendecke auf einem starken Haken hing, die Kerzen anzuzünden. „Man kann nicht genügend acht geben“, sagte sie, „wie der schon wieder dürr ist!“ Für das Rosenkranz-Beten konnte ich mich nicht wirklich begeistern. Für mich war da keine Bewegung erkennbar. Darum war ich mit meinen Gedanken oft ganz weit weg. Besonders an diesem Tag. Mich faszinierte dieses Kerzenlicht, dieser Lichterschein. Es machte mich ganz ruhig und still, bis wir zu dem Gesetzchen „den du oh Jungfrau zu Bethlehem geboren hast“, gekommen waren. „Irgendwas stimmt da nicht“, sagte ich ganz leise zu mir, „was beten wir denn heute um Gottes Willen? Was ist das für ein Christkind das zu uns heute kommt?“ Angeblich kann das Christkind mit samt und sonders so auch mit dem geschmückten Baum durch das geschlossene Fenster fliegen und in Wirklichkeit soll es in Bethlehem erst geboren werden! „He, Greti, vergiss nicht zu beten!“, ermahnte mich erneut mein Vater. Doch ich spann weiterhin meine Gedanken.
Plötzlich wurde ich durch einen helles, feines Glockengeläut wachgerüttelt. Mein Vater, der ganz am Rande unserer Tischbank saß, rief ganz aufgeregt: „Kinder, habt ihr gehört, es hat geläutet! S´ Christkind ist da!“
Wir Kinder standen wie angewurzelt vor der Stubentür. „ Kinder“, sagte unser Vater weiter, „ich schau zuerst einmal, wie es heuer da draußen ausschaut!“ Er steckte seinen Kopf ganz vorsichtig bei der Stubentür hinaus und dann sagte er ganz aufgeregt: „ Kinder, ich kann euch sagen, heuer ist es besonders schön! Ihr werdet euch wundern, ihr werdet vielleicht staunen. Und jetzt macht eure Augen zu und zählt bis zehn. Bei zehn dürft ihr dann schauen.“ Meine Augen gingen schon bei fünf auf und die von meinen Geschwistern auch, denn wir alle sagten im selben Augenblick: „Oh, so schön, soviel Licht, so wunderbar!“ Vor dem glitzernden, hellleuchtenden Christbaum stand ein nagelneuer Schlitten, den ich mir so sehnlich gewünscht hatte. Aber rechts vom Christbaum stand die größte Überraschung. Das Christkind höchstpersönlich war gekommen. Das Christkind hatte meinen Herzenswunsch erfüllt. Das Christkind trug ein langes weißes Kleid und weiße Handschuhe. Es hatte wunderschöne Haare, die ihm weiß gelockt über die Schulter hingen. Nur in das Gesicht ließ sich das Christkind nicht schauen. Das verbarg es hinter einem weißen, ausgefransten Tuch. Als ich mir das Christkind genauer ansah, fiel mir auf, dass das Christkind ganz anders aussah, wie im Lesebuch oder auf den Weihnachtskarten. Ich war irgendwie enttäuscht über das Erscheinungsbild. Deshalb fing ich an, zu fragen. „ Du Christkind“, sagte ich, „wo hast du denn dein Sternenkleid und deinen Heiligenschein und warum versteckst du dein Gesicht?“ Das Christkind gab mir keine Antwort. Es stand stumm und bewegungslos vor mir. Meine Mutter tat entsetzt über meine Fragerei und sagte: „Greti, so etwas sagt man nicht, hör auf, so zu reden!“ Aber meine Stimme wollte nicht verstummen und so redete ich weiter: „Aber schaut doch, wie die Flügel vom Christkind ausschauen. Die hängen wie zerschlissene Fetzen hinten am Rücken! Christkind bist du vielleicht irgendwo zwischen den Bäumen hängen geblieben?“ Das Christkind blieb wieder stumm, so stumm wie zuvor. Dafür meldete sich mein Vater zu Wort: „ Greti“, sagte er, „wenn du so weiter redest, wird das Christkind bald fort sein! Bedenke, das Christkind ist im Stall geboren und es hält sich deshalb auch gerne bei den armen Menschen auf!“ Ich stand da und wusste nicht wie mir geschah. Doch plötzlich übermannte mich das Gefühl, das Christkind berühren zu wollen. Ich streckte meine Hand nach ihm aus, doch das Christkind machte kehrt und entwischte durch die Tür. Doch dabei hatte es einen Schuh verloren. Es war ein schwarzer Schuh. Als ich mich bückte und mir den Schuh etwas genauer ansah, war meine Freude, so wie das Christkind auf und fort. „Schaut!“, habe ich zu meinen Eltern und Geschwistern gesagt, „schaut euch bitte einmal diesen Schuh an! Der ist doch völlig zertreten und zerschlissen. Hinten hat er kaum noch eine Ferse, vorne geht der Schnabel auf, wie kann man um Gottes Willen so durch den Schnee stapfen? Das Christkind beschenkt alle Menschen und selber kann es sich nicht einmal neue Schuhe kaufen. Einen so schönen Christbaum hat es gebracht, einen nagelneuen Schlitten und selber?“ Die ganze Familie stand nun rund um den Schuh. Mein Vater schüttelte ein wenig den Kopf, lächelte vor sich hin und meinte: „Zum Glück kann das Christkind fliegen, denn barfuß oder nur mit Strümpfen durch den Schnee wäre das jetzt sehr unangenehm. Das Christkind wird sicher noch bessere Schuhe zu Hause haben.“ „In der Eile geht oft etwas daneben“, meinte er noch und dabei streichelte er sanft über meinen Rücken.
Langsam kam auch zu mir wieder die Freude zurück. Zum ersten Mal begriff ich von ganzem Herzen, dass Freude etwas ganz Wunderbares ist.
Verfasser
Margarete Weichselbaum (geb.1955), Eibenstein 34, 4261 Rainbach i. M.
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