Das Anstandseck am Jausenbrett

Das Anstandseck am Jausenbrett.

Früher war es üblich, dass man einmal im Jahr zu Fuß oder mit dem Pferderennwagerl die Verwandten oder sie uns besuchten. Man erzählte sich dabei vieles, was sich so im Laufe des Jahres zugetragen hatte. Die Männer untereinander sprachen über die Wirtschaft, vom Stall, vom Anbau und von der guten oder schlechten Ernte. Die Frauen sprachen von der Küche und von den Kindern. Wenn sie Gespräche führten, die wir Kinder nicht hören durften, hieß es „Schindln am Dach“ und somit wurde sofort das Gespräch über dieses Thema beendet. Am späten Nachmittag gab es dann zur damaligen Zeit eine ausgiebige Jause. Da es selten oder gar keine Wurst gab, kam nur Selbsterzeugtes wie Geselchtes mit Ziegalkäs und Butter auf die Teller. Zu trinken gab es Apfel- oder Birnenmost, den wir auch selbst erzeugten. Bei größeren Bauern gab es vereinzelt auch Bier.

Nachdem die Mutter die Teller mit der Jause auf den Tisch gestellt hatte, forderte sie die Verwandten auf mit dem Essen zu beginnen. Diese fingen aber erst nach mehrmaliger Aufforderung damit an. Zu dieser Zeit gehörte es zum guten Benehmen nicht gleich mit dem Essen zu beginnen. Man sagte sogar auch noch oft, dass man noch keinen Hunger habe, obwohl einem ohnedies schon der Magen knurrte. Nach längerer Zeit wurde dann endlich mit dem Jausnen begonnen. Man durfte nicht alles wegessen, sondern man musste am Teller ein großes Eck mit Jause (Anstandseck) liegen lassen. Wir Kinder freuten uns, wenn unser Besuch endlich nach Hause gegangen war, denn dann durften wir den guten Rest vom Teller aufessen.

Apfoltern
1950
Verfasser

Robert Reindl (geb.1943), Sonnberg 16, 4240 Freistadt

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