Das Jahr 1945 und 1946 in Kerschbaum und in unserem Haus.
Im Frühling 1945 ging ich, so kann ich mich noch erinnern, mit meiner Mutter auf einem Feldweg bis zum „Mitterfeld“ und hörte immer ein Donnern. Ich fragte Mutter, was das sei. Sie sagte: „Die Amerikaner bombardieren wieder einmal Linz.“ Ich konnte mir damals darunter noch nichts vorstellen. Von Norden zog die Wlassov - Armee in Kerschbaum ein. Sie hatte mit der Deutschen Wehrmacht gegen den Kommunismus in Rußland gekämpft und war auf der Flucht vor der russischen Armee. Es war eine Unmenge von Menschen. Die Soldaten waren mit Frauen und Kindern unterwegs nach Kärnten. Sie hatten eine große Menge Schafe bei sich, die ihre Ernährungsbasis waren. Die Tiere fraßen das noch spärliche Gras bis zur Wurzel ab, so dass der Graswuchs in diesem Jahr sehr darunter gelitten hat. In unserem Obstgarten waren eine große Feldküche und viele Zelte aufgestellt. Nach drei Wochen zogen die Soldaten mit ihren Familien und Schafen wieder ab. Wie wir später erfuhren, wurden sie von den Engländern gefangen genommen und den Russen übergeben, die sie alle ermordeten.
Einige Tage später hörten wir von Süden her ein Brummen. Es waren amerikanische Panzer und Autos, die sich auf der Bundesstraße nach Norden in Richtung Kerschbaum bewegten. Auf einmal hörten wir Schüsse und dann ein Geschrei: „Der Jobst Loisl ist tot!“ Da die verantwortlichen Männer von Kerschbaum die weiße Fahne nicht gehisst hatten, schossen die Amerikaner in das Dorf und erkundeten so, ob noch deutscher Widerstand vorhanden war. Dabei wurde Jobst Loisl tödlich verletzt. Ich erinnere mich noch, wie man den Loisl auf einem Leiterwagerl zum Jobst gefahren hat. Ganz klein und bleich war er. Ich glaube er war 11 Jahre alt. Die Amis besetzten Kerschbaum westlich der Bundesstraße.
Es hieß, dass von Osten die Russen kommen. Alle Menschen fürchteten sich sehr, denn den Russen ging ein sehr schlechter Ruf voraus. Meine Mutter, meine Schwestern Fanni, Klara und ich mussten auf der Falltüre im Getreidekasten schlafen, die ja gut getarnt war. Vater hielt Wache bei geschlossener Haustüre. Die älteren Schwestern waren mit den Nachbarstöchtern in einem sicheren Versteck beim Nachbarn. Auf einmal gab es ein Geschrei: „Dawaij, dawaij! Aufmachen!“ Wie mein Vater später erzählte, hatte er in der Hand eine große Hacke, denn wenn ein Russe meine Mutter oder uns Kinder angegriffen hätte, hätte er ihnen den Schädel gespalten. Als er dann auf Drängen der Russen die Türe aufschloss, wollten sie an ihm vorbei in das Haus. Es kam zu einem Handgemenge, wobei die Russen Vater mit dem Gewehrkolben das Nasenbein zertrümmerten. Vater konnte die Türe wieder zuschlagen. Die Russen leerten dann einige Magazine aus ihren MPIs mit Schüssen durch die eisenbeschlagene Türe. Die Einschüsse konnte man bis zum Wohnhausbau im Jahre 1955 an der Türe sehen.
Unsere Mutter und wir kleineren Kinder wurden die nächsten Tage in die amerikanische Zone gebracht, wo wir beim Moßbauern in der Scheune Unterschlupf fanden. Die Amis waren gute Menschen. Wir bekamen von ihnen oft Schokolade. Auch konnten wir Kinder auf der Tenne Gewürznelken sammeln, die von ihnen weggeworfen wurden. Einige Tage später zogen sich die Amis bis zur Eisenbahnstrecke Linz- Budweis zurück. Die Russen besetzten ganz Kerschbaum und das Chaos begann. Wir kehrten wieder in unser Elternhaus zurück, wo schon sehr viel von den Russen gestohlen worden war. Sie machten Tag und Nacht „Kontrollen“, um nach deutschen Wehrmachtsangehörigen zu suchen. Dabei raubten sie alles, was nicht angenagelt war. Sämtliche Ausstattung der älteren Schwestern, so wie Decken, Tuchenten und fast das ganze Geschirr wurde gestohlen, auch Fahrräder waren ein begehrter Artikel. Die Suche nach Frauen und Mädchen war ihr vorrangiges Ziel. Frauen und Mädchen suchten in dieser Gefahr bei Nacht Zuflucht in nahegelegenen Roggenfeldern, um dem drohenden „Kartoffelschälen“, so nannten die Russen Vergewaltigungen, zu entgehen. Vielen mir persönlich bekannten Frauen blieb aber dennoch dieses furchtbare Schicksal nicht erspart. Ich erinnere mich noch, wie die Russen bei uns auf dem Stubentisch eine stark alkoholisierte Frau legten, um ihr „Sacherl“ zu machen. Wir Kinder wurden dann schnell in die Kammer geschoben, um das nicht mit ansehen zu müssen. In unserer Auszugswohnung war eine Familie einquartiert. Ich glaube, sie waren von Ostpreußen. Sie hatten eine erwachsene Tochter. Diese wurde von den Russen mit Schnaps fast betäubt und an einem Tag öfters vergewaltigt. Wir Kinder begriffen die ganze Tragödie Gott sei dank noch nicht.
Da wir eine große Stube und einen „guten“ Nachbarn hatten, der immer wieder den Russen unser Haus als Unterkunft empfohlen hatte, wurden bei uns 50 Russen in der Stube einquartiert. Sie stellten ihre Gewehre immer 10 und 10 Stück wie „Kornmandeln“ zusammen. Man schlief auf Stroh (Bircht). Während ihrer Anwesenheit in unserem Haus hatte unsere Familie relative Ruhe, ja man beschützte uns sogar vor so manchen Übergriffen. Es waren ja nicht alle Russen schlecht. Es war eben die Kriegssituation, die die Menschen verrohen ließ.
Für gestohlenes Geschirr bekamen meine Eltern einige 50 Liter-Häfen und eine riesengroße Pfanne. Darin „durfte“ Mutter Siedefleisch und Eierspeise von gestohlenen Rindern, Schweinen und Eiern machen. Eierspeise wurde meistens von zirka 150-200 Eiern gemacht, Fleisch und Gulasch meistens 50 Liter. Davon bekamen auch wir öfter etwas ab.
Nach und nach stellten sich auch kleine Haustiere bei uns ein. Wir bekamen Kopf- und Gewandläuse. Die Gewandläuse saßen wie Soldaten in den Gewandnähten. Dazu bekamen wir auch noch die Hautkrätze, besonders die Krätze juckte fürchterlich. Die Bekleidung wurde nach dem Brotbacken in den Backofen gegeben, bis die Läuse tot waren, weil sie angeblich nur bei trockener Hitze sterben. Uns Kindern wurde die Haut mit Schwefelsalbe eingerieben und der Kopf mit Petroleum gewaschen. Das ganze stank zwar fürchterlich, aber es hat geholfen. Später wurden dann die Kinderköpfe mit dem Läusekamm bearbeitet. Mutter schob uns zur Bank und kämmte uns den Kopf. Die Läuse fielen auf die Bank und wurden dann mit dem Daumennagel zerdrückt. Es war eine mühsame Arbeit für Mutter uns Kinder lausfrei zu halten, da ja von den Russen jede Menge Nachschub kam. Die Russen waren von Mai 1945 bis Februar 1946 bei uns einquartiert. Nach und nach verschwanden Russen und Läuse. Die Russen wurden in Freistadt konzentriert.
Verfasser
Karl Leitner (1941-2020), Kerschbaum 1, 4261 Rainbach i. M.
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